Dem Staub ein Gegengewicht 2, 2008
Polyesterwatte, Kinderschuhe und Strümpfe, Puppenstube,
72 x 59 x 123 cm
Selbdritt, 2008
Polyesterwatte, Puder, Blankomasken, Holzschemel, Holz, 136 x 51 x 141 cm
Das Selbdritt Motiv gibt es in vielen Variationen in der Malerei und Bildhauerei und manifestiert sich als Dreiergruppe, in der die 2 Erwachsenen Maria, ihre Mutter Anna und das Jesus-Kind einander zugewendet oder ineinander verschachtelt angeordnet sind. Das Motiv war vom Mittelalter bis in die Renaissance hinein populär.
Ich habe das Motiv zum Anlaß genommen, über den mysteriösen Einfluß der Ahnen auf das eigene Leben nachzudenken und die lebensgroße Figurengruppe Selbdritt entwickelt. Auch hier sitzen sich die Figuren auf dem Schoß aufeinander, es gibt jedoch auch eine eindeutige Bewegung weg von der zentralen, statisch sitzenden Figur. Diese Bewegung mündet in der ausgestreckten Hand des Kindes, das eine Schafsmaske nach vorne hält.
Die beiden erwachsenen Figuren greifen Puppenspielern ähnlich in den Rücken der jeweils vor ihnen Sitzenden. Am Rücken befindet sich eine theatralisch mit schwarzem Samt ausgeschlagene Öffnung, in die hineingegriffen wird.
In den Oberflächen aus Polyesterwatte ist eine deutliche „Verstaubung“ zu erkennen, das Kind ist rosa, nur zart angestaubt, bis zur Anna in staubgrau und dem Schemel der deutlich Abnutzungsspuren zeigt. Alle drei Figuren tragen Blanko-Masken aus weißem Plastik.
Zukunft abbilden, 2008
Ausstellungsansicht Georg-Kolbe-Museum, 2008,
Polyesterwatte, Stoff, Taschenlampe, Puder, Kunstrasen, 120 x 200 x 400 cm
Nähert man sich der Figur, so nimmt man zuerst eine kleine Figur in Tarnkleidung wahr, die auf einem erhobenen Stück Kunstrasen sitzt und deren Blick auf die Wandgerichtet ist. Auf der Wand leuchtet ein kreisrunder Fleck. Es scheint eine idyllische Szene zu sein von einer Person, die auf einen Sonnen- oder Mondaufgang am Meer blickt .
Geht man um die Figur herum, wird klar, daß die Kinderfigur sich selbst mit einem ihrer Arme samt Kunstrasenfläche in die Höhe hebt und mit der anderen Hand die Taschenlampe hält, die den Schein an die Wand wirft. Der verlängerte Arm wächst durch die Sitzfläche hindurch und bildet unter der Figur einen dunklen leeren Raum vor dem die beiden kurzen Beine herunter hängen.
Kleiner Wagen, 2008
Ausstellungsansicht Georg-Kolbe-Museum, 2008,
Besen, Federn, Nest, Holz, Kreide, Wagen, Höhe: ca. 220 cm
Kleiner Wagen besteht aus nach oben gerichteten Besen deren Roßhaarteile mit schwarzen Vogelflügeln verlängert sind. Die Besenstiele stecken durch eine schwarzen Platte hindurch in einem alten Holzwagen.
Auf der Oberfläche der Platte ist wie auf einer Schultafel eine weiße Kreidezeichnung – der Umriss eines Kindes. Am vorderen Teil des Platte befindet sich ein Loch in das ein Vogelnest gesteckt ist.
Fallschirm, 2007
Ausstellungsansicht Galerie Caprice Horn, 2009,
Baumwollfallschirm, gefaltetes Papier, Kleidung,
ca. 45 x 500 x 500 cm
In der Arbeit Fallschirm von 2007 habe ich eine am Boden kauernde Figur in einen gebrauchten hellen Militärfallschirm aus Baumwolle eingeschlagen. Von Weitem zeichnen sich rote Gurtbänder auf dem Rücken der Figur ab. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass es sich bei den „Gurten“ um ausgeschnittene Negativformen handelt, die sich auf eine darunterliegende rote Schicht beziehen.
Der Rücken der Figur sitzt genau im Zwickel des Fallschirms, dort wo der Stoff in komplizierten Lagen zur Sicherheit des Fallenden vernäht ist. Vor der Figur breitet sich die üppige Stofffülle des Fallschirms in Falten auf dem Boden aus. Über ihm schweben in geringem Abstand schwarze gefaltete Papierflieger.
Spuren des Schmerzes
Dreierlei fällt an Rennerts Arbeit auf und ist jeweils als Faktum bemerkenswert. Zum einen die pointierte Ambivalenz, wie sie sich im Titel „Flucht auf der Stelle“, aber auch in der zwischen den Gegensätzen hart und amorph angelegten Materialwahl artikuliert. Zweiter Punkt: die latente Aggressivität oder Brutalität, die sich wie ein roter Faden, wie eine Schmerzspur durch das Werk Rennerts zieht und die im konkreten Fall umso eher zu empfinden ist, als dort, wo das Kopfende der Bettes zu vermuten ist, schwarzes grobmaschiges Kunststoffgewebe über die Konstruktion geworfen wurde – als läge da ein Witwenschleier. Und drittens zeichnet sich mit „Flucht auf der Stelle“ eine vermehrte Hinwendung zum Figürlichen ab.
MICHAEL HÜBL, KUENSTLER – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, 2014
Flucht auf der Stelle 4, 2007
Ausstellungsansicht Georg-Kolbe-Museum, 2008,
Polyesterwatte, Spitzenstoff, Puder,
125 x 116 x 160 cm
Bei Flucht auf der Stelle 4 stützen sieben Beine einen Körper und verleihen ihm eine ambivalent lesbare Haltungen zwischen Niederknien und Erheben.
Die Figur besteht aus weißer Polyesterwatte, die mit weißer Spitze bezogen ist. Sie wirkt dadurch gleichzeitig nackt und bekleidet. Über dem Kopf trägt sie eine spitze Haube und an den Händen Handschuhe aus schwarzer Spitze. Von den Füßen aufwärts bis zum Schenkel wurde die Watte mit hautfarbenem Puder eingefärbt. Die Füße sind zusätzlich grau gefärbt, sodass sie wie beschmutzt wirken.
Die Kluge Else, 2007
Ausstellungsansicht Georg-Kolbe-Museum, 2008,
Netz, Glöckchen, Polyesterwatte, Puder, Gummi,
Maße variabel
Die Arbeit Die kluge Else ist von dem gleichnamigen Grimmschen Märchen inspiriert, in dem die Protagonistin durch ein ihr übergehängtes Schellennetz ihre Selbstidentifikation verliert. Das fremde Geräusch um sie herum veranlaßt sie zu der Frage: Bin ichs oder bin ichs nicht?
Sie versucht jedoch nicht die Frage etwa selbst zu lösen, sondern trägt sie nach außen und verzweifelt daran.
In der Arbeit hängt nur der Kopf im schellenbesetzten Netz, er ist unter dem Oberkiefer vom Körper abgetrennt. Bewegt man sich vor der Arbeit, füllt sich das rote Innere des Kopfes im Mund wie mit der Frage nach dem Selbst.
Aber die spontanen Auslöser eines Objekts oder einer Installation – das sind die abgelegten, abgenutzten, manchmal auch ramponierten Gebrauchsgegenstände, die der Künstlerin zufällig unterkommen. Wie eben das schwarze Lederkleid, das durch Material, Schnitt und durch die exponierten Reißverschlüsse an den Schultern geradezu prädestiniert schien, eine Veränderung, eine bevorstehende Verwandlung, einen Durchbruch zu einer neuen Gestalt, aber auch das Gegenteil von alledem anzudeuten: eine Hemmung, eine Blockade, die verhindert, dass etwas, das Wirklichkeit werden will, zur Entfaltung gelangt.
MICHAEL HÜBL, WENN BLÜTEN BLUTEN, 2008, DEM STAUB EIN GEGENGEWICHT, VERLAG MODERNE KUNST
Blendung, 2007
Lederkleid, Polyesterwatte, Farbe, Metallhaken, 180 x 90 x 66 cm
Bei Blendung hängt ein Körper in einem schwarzen Lederkleid an einem Haken von der Decke. Das Kleid, ein Fundstück, war das Ausgangsmaterial für die Arbeit. Es ist ein in T-Form geschnittenes Kleid, das am Halsausschnitt mit zwei Reißverschlüssen vollständig geschlossen werden kann. Das sackartig verschlossene Kleid umschließt einen androgyn modellierten Körper, den es bis zur Hüfte bedeckt. Der Kopf ist nicht zu sehen. Unten aus dem Kleid ragen drei aus Polyesterwatte geformte, nackt erscheinende Beine, die in Schrittformation hintereinander angeordnet sind. Die Zehen berühren den Boden.
Dem Staub ein Gegengewicht 1, 2007
Holzstuhl, Poyesterwatte, Karton, Puder,
76 x 50 x 120 cm
In der Arbeit sieht man eine lebensgroße Figur, die auf einem Kinderstuhl sitzt, dem ein Bein fehlt. Beide Beine der Figur münden über dem Knöchel in nur einem Fuß. Der linke Arm, mit einer proportional großen Hand, umfasst die Beine und hält den Körper zusammen. Die rechte Hand ist proportional sehr klein und scheint mit den zwei Fingern in den Raum vor der Figur zu spazieren. Der Kopf der Figur ist nicht zu sehen. Er steckt in einem geschlossenen Pappkarton, der den Kopf proportional zum Körper vergrößert. Über die ganze Figur, die aus Polyesterwatte geformt ist, ist staubig-grau gefärbtes Talkumpuder gestäubt. Nur die kleine Hand ist hellfleischfarben gepudert.
Flucht auf der Stelle 3, 2006
Holzstuhl, Figur, Lampe, Maße variabel
Ein gefundener Holzstuhl wurde entkleidet und umgedreht auf seine Lehne gestellt. Die Sprossen der Lehne sind aus der Achse gedreht und halten den Stuhl in der Balance. Die nach oben gereckten drei Beine sind ebenfalls aus ihrer Achse verdreht, auf dem vierten Bein steckt eine babyhafte Figur, bedeckt mit fleischfarbenem Puppenjersey und mit einer kunstlederner Augenbinde. Vor dem Stuhl am Boden befindet sich eine 300 Watt- Glühbirne. Das Licht wirft einen stark vergrößerten Schatten der skulpturalen Situation an die Wand. Hier sieht es so aus, als ob die Figur durch den Rahmen des Stuhles hindurch fällt.
Junggeselle, 2006
Zellgummi, Styropor, Lampe, Batterie,
93 x 76 x 85 cm
Mein Ausgangsmotiv war eine Passage aus dem Roman Von Liebe und Finsternisvon Amos Oz. Oz erzählt darin von einer Wohnung, die in einen Berg gebaut ist. Der Berg erhält in der Erzählung den Charakter eines Junggesellen: ein schwerer, in sich gekehrter und leiser Nachbar, ein alter und melancholischer Berg mit festen Junggesellengewohnheiten, still, dunkel und feucht.
Beim Betrachten der Skulptur verhält es sich so, dass der kleine Raum oder Tunnel, der in den Berg führt, zunächst als dunkles Loch wahrgenommen wird. Erst wenn sich der Betrachter vor dem Berg bückt oder kniet, sich selbst klein macht, sieht er ein Lämpchen, das im Inneren leuchtet. Durch die Pfoten, die an beiden Seiten aus dem Körper ragen, strahlt die Figur eine entspannte, in sich gekehrte Ruhe aus.
I Drink your Flower, 2005
Matratzenstoff, Kunstrosen, Watte, Metall,
171 x 46 x 57 cm
Die Entwichlung dieser Arbeit steht unter dem Einfluß eines Berichtes eines Folteropfers, der mich sehr berührt hat. Es geht um den Verlust der Hände.
Die Vorstellung, daß Menschen anderen Menschen die Hände wegnehmen können, ist entsetzlich, dennoch geschieht es.
Während ich an der Entwicklung der Skulptur arbeitete, entdeckte ich das Grimmsche Märchen „Mädchen ohne Hände“, in dessen Verlauf ein Mädchen nach dem Verlust der Hände einen Entwicklungsprozeß durchläuft und an dessen Ende seine Selbstfindung steht. In diesem Märchen hat die schmerzhafte Entwicklung eines Menschen einen positiven Abschluß gefunden.
Die Künstlerin kontrastiert das Sanfte, das Milde, das Anschmiegsame, das einen Zustand kreatürlicher Harmonie und Gelassenheit verspricht, mit dem Schock der Zerstörung. Dieser Schock irritiert und er irritiert doppelt, denn er birgt in sich selbst ein Moment von Verltzlichkeit. An Rennert Arbeit „I drink your Flower“ ist diese Unauflösbarkeit sich widersprechender emotionaler und semantischer Impulse exemplarisch abzulesen.
MICHAEL HÜBL, WENN BLÜTEN BLUTEN, 2008, DEM STAUB EIN GEGENGEWICHT, VERLAG MODERNE KUNST
Inwendiges Warten. 2005
Mäntel, Leim, Lederhandschuhe, Glühbirnen, Kabel, Maße variabel
Zwei schwarze Mäntel, die hohl sind, sind zu kauernden Figuren geformt und versteift. Aus den Ärmeln kommen schwarze Lederhandschuhe an deren Fingerspitzen kleine spitze Lampen wie Fingernägel befestigt sind. Beide Formen sind kopflos. Die sich belauernde Haltung, wird von den leicht erhobenen Hände unterstützt. Die Handschuhe versprechen die Funktionalität von Tasten und Ausleuchten gleichfalls.
Delight in Disorder, 2005
Wolle, Spielzeug, 39 x 29 x 30 cm
In einer kontrastierenden Gegenüberstellung trifft eine waffenstarrende Plastikspielfigur in Science-Fiction-Outfit auf ein urmutterartige Wollwesen, und obwohl diese Frauengestalt den Eindruck erweckt, sie sei aus gerupften Putzlumpen gefertigt, obwohl sie grau, faserig, plump und offenbar schwerfällig dasitzt, bleibt außer Zweifel, dass sie die Überlegene ist, dass in ihr die eigentliche Macht schlummert.
All die spitzigen Flammenschwerter, Monstergranaten und Rambo-Rüstungen des martialischen Männchens sind nichts im Vergleich zu der unendlichen Ruhe dieser poveren Figur, die gerade mal 39 Zentimeter misst. Wie bei der Jungfrau Maria auf den Gemälden alter Meister bedeckt ein Tuch ihren Kopf – oder ist es ihre letzte zerschlissene Decke?
MICHAEL HÜBL, WENN BLÜTEN BLUTEN, 2008, DEM STAUB EIN GEGENGEWICHT, VERLAG MODERNE KUNST
Auch das Ungewöhnliche muß Grenzen haben, 2005
Stoff, Metall, Watte, Holz,
180 x 90 x 112 cm
Puppen gehören zum Inventar früher Zaubermittel. Sie sind als Wiedergänger von Mensch und Tier die unheimlichen Gäste dunkler Interieurs. Die Furcht, dass sie sich beleben und uns Böses antun könnten, zeugt bis heute von den tief verinnerlichten Restbeständen eines ehemals ungebrochenen, magischen Weltverhältnisses.
EUGEN BLUME, VOM UNHEIL DES INWENDIGEN WARTENS IN DEN FIGUREN VON NADINE RENNERT, 2008, DEM STAUB EIN GEGENGEWICHT, VERLAG MODERNE KUNST
Flucht auf der Stelle, 2004
Holz, Kunststoffgewebe, Bettdecke,, Korsett, Schraubzwingen
Alle Figuren von Nadine Rennert scheinen von jenem inwendigen Warten erfüllt, welches sie nur zwei ihrer Gestalten im Titel zugesteht. Die weibliche Halbfigur aus beigefarbenem Wildleder auf einem Glassockel mit dem schlichten Titel „Mädchen mit Pelz“ beispielsweise scheint ihrer endgültigen Vertierung entgegenzuwarten, die sich bereits im fortschreitenden Pelzbewuchs an den Armen hinauf einstellt. Ihre rauhe Lederhaut, ein nach innen gestülpter tierischer Balg, scheint von dieser dichten Behaarung so überrrascht wie das berühmte Frühstück im Pelz von Meret Oppenheim. Den Pelz könnte man wiederum als eine Metapher für das inwendige Warten sehen oder, besser, auf eine unheimliche Weise fühlen.
Eugen Blume, Vom Unheil des Inwendigen Wartens in den Figuren von Nadine Rennert, 2008, Dem Staub ein Gegengewicht, Verlag Moderne Kunst
Mädchen mit Pelz, 2003, Wildleder, Nerz, Glasfuß, 180 46 x 29 cm